Seligkeit durch Leid und Läuterung

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Das Dunkel, die trostlose Finsternis, das ist der schreckliche Kreislauf des täglichen Lebens. Wozu steht man am Morgen auf, ißt, trinkt, legt sich abermals wieder hin? Das Kind, der Wilde, der gesunde, junge Mensch, das Tier leidet unter diesem Kreislauf gleichgültiger Dinge und Tätigkeiten nicht. Wer nicht am Denken leidet, den freut das Aufstehen am Morgen, und das Essen und Trinken, der findet Genüge darin und will es nicht anders. Wem aber diese Selbstverständlichkeit verloren ging, der sucht im Lauf der Tage begierig und wachsam nach den Augenblicken wahren Lebens, deren Aufblitzen beglückt und das Gefühl der Zeit samt allen Gedanken an Sinn und Ziel des Ganzen auslöscht. Man kann diese Augenblicke die schöpferischen nennen, weil es scheint, daß sie das Gefühl der Vereinigung mit dem Schöpfer bringen, weil man in ihnen alles, auch das sonst Zufällige, als gewollt empfindet. Es ist dasselbe, was die Mystiker die Vereinigung mit Gott nennen. Vielleicht ist es das überhelle Licht dieser Augenblicke, das alle übrigen so finster erscheinen läßt, vielleicht kommt es von der befreiten, zauberhaften Leichtigkeit und Schwebewonne jener Augenblicke, das das übrige Leben so schwer und klebend und niederziehend empfunden wird. Ich weiß es nicht, ich habe es im Denken und Philosophieren nicht weit gebracht. Doch weiß ich: wenn es eine Seligkeit gibt und ein Paradies, so muß es eine ungestörte Dauer solcher Augenblicke sein; und wenn man diese Seligkeit durch Leid und Läuterung im Schmerz erlangen kann, so ist kein Leid und Schmerz so groß, daß man sie fliehen sollte.

Hermann Hesse (1877 – 1962) in „Gertrud“ (1910)

Gefunden habe ich dieses Zitat hier: https://wolfgang-naeser-marburg.lima-city.de/htm/hesse.htm