Der Novembertag

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Kalter Herbst vermag den Tag zu knebeln,
seine tausend Jubelstimmen schweigen;
hoch vom Domturm wimmern gar so eigen
Sterbeglocken in Novembernebeln.

Auf den nassen Dächern liegt verschlafen
weißes Dunstlicht; und mit kalten Händen
greift der Sturm in des Kamines Wänden
eines Totenkarmens Schlußoktaven.

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) in: Larenopfer. In: Sämtliche Werke, Band I, S. 17-18.

Anteil an der Gestaltung der Welt

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Doch nur die Gedanken sind etwas wert, die sich auf die intensivste Weise unserem Sein assimiliert haben, so dass selbst die leiseste Geste sie auszudrücken vermag. Sie sind Antwort, sind Melodie, die in uns eindringen, ohne dass wir es womöglich bemerken, und die uns überraschen, wenn sie aus unserem Herzen, in dem sie gereift sind, aufsteigen. Sie sind in ihm zum Blühen gekommen, sind von ihm gedacht worden und wurden Wissen. Durch derartiges inneres Wachstum nimmt der Mensch Anteil an der Gestaltung der Welt. Und dank des menschlichen Herzens können und werden noch neue Blumen entstehen.

Jean Gebser (1905 – 1973), GA 7, Schaffhausen 1986, S. 286 f.

Wer vermag zu erklären wofür der Mensch sich so plagt

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Wer vermag zu erklären,
wofür der Mensch sich so plagt,
eine Behausung zu schaffen,
wenn sie doch letztlich vergänglich ist,
und wie diese ihm solch eine Beglückung sein kann?
Dabei scheint es,
als ob Herr und Haus darüber stritten,
wer von beiden wohl zuerst vergehe.

Kamo no Chomei (1153–1216) in: Hojoki / Aufzeichnungen aus meiner Hütte

Das Echte erkennen

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Auf die Schule des
Denkens, Erkennens, Anschauens
kommt sehr viel an.

Die Menschen müssten erst das Vermögen,
das Echte zu erkennen, zurückgewinnen.

 

Reinhold Schneider im Jahr 1937 in einem Brief an seine frühere Vermieterin und lebenslange Gefährtin Anna Baumgarten

Enzensberger: Bewusstseins-Industrie

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In seinem eignen Bewusstsein dünkt ein jeder, und noch der unselbständigste Kopf, sich souverän. Seitdem von der Seele nur noch die Rede ist, wenn nach dem Beichtvater oder nach dem Psychoanalytiker gerufen wird, gilt es als die letzte Zuflucht, die das Subjekt vor der katastrophalen Welt bei sich selber sucht und zu finden meint, so als wäre es eine Zitadelle, die der alltäglichen Belagerung zu widerstehen vermöchte. …

Erster Satz des nach wie vor gültig scheinenden Buches: Hans Magnus Enzensberger (* 11. November 1929) in „Bewusstseins-Industrie“
https://www.suhrkamp.de/buecher/einzelheiten_i-hans_magnus_enzensberger_10063.html?d_view=inhaltsverzeichnis