Das Auge der Seele öffnen

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Wie das leibliche Auge, so kann auch das Sehvermögen der Seele sehr umwölkt und trüb sein, und sie kann durch falsche Erscheinungen getäuscht werden. Das Vergnügen zum Beispiel wird ständig für ein Gut gehalten, obwohl es nicht wirklich gut ist.
Aber wenn das Auge der Seele rein und klar sieht, dann gibt es keinen Einspruch gegen seine Urteile. Auf dem Gebiet der Menschenführung besteht die Erziehung … nicht im Lehren; sie besteht darin, dass das Auge der Seele geöffnet und ihr Sehvermögen gereinigt wird von den verzerrenden Nebeln ihrer Voreingenommenheit und der Eingebildetheit auf ihr Wissen, das in Wirklichkeit nur eine von anderen übernommene Meinung ist.

Sokrates (469 – 399 v.u.Z.)

Thomas Merton (1915 – 1968) weist in einer Anmerkung auf den Gedanken von Sokrates in seinem Buch „Weisheit der Stille. Die Geistigkeit des Zen und ihre Bedeutung für die moderne christliche Welt“ hin. Bern / München / Wien 1975, S. 235 – 236

Merton bezieht sich auf das Buch von Francis Macdonald Cornford, Before and After Socrates (1932)
http://www.ditext.com/cornford/socrates.html

… hat uns der Lotus seit jeher entzückt

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Zuerst erblüht im Westlichen Paradies,
Hat uns der Lotus seit jeher entzückt.
Seine weißen Blüten sind bedeckt mit Tau,
Seine jadegrünen Blätter dehnen sich über den Teich,
Und der Wind ist erfüllt von seinem reinen Duft.
Kühl und majestätisch
Erhebt er sich aus dem trüben Wasser.
Die Sonne versinkt hinter den Bergen,
Doch ich bleibe noch im Dunkel hier,
Viel zu verzaubert, um schon zu gehen.

Ryokan (1758 – 1831)

Die Seele

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Die Seele kann ein Meer sein,
Aber auch — ein Tümpel,
Verjaucht, und angefüllt
Mit irdischem Gerümpel…

Ist sie ein Meer,
So hält sie, gleich den Meeren,
Sich selber immerfort bewegt und rein.
Ist sie ein See,
So wird in gleicher Weise
Sie selbst sich Klärung
Durch lebendige Bewegung sein.
Und auch als Teich
Kann sie sich selber klären,
Mag das nach Stürmen
Auch recht lange währen.

Ist sie jedoch ein Tümpel,
Gibt sie allem Abfall Raum,
Verwest als trüber Pfuhl
Und — fühlt es kaum.

Bô Yin Râ, Leben im Licht, Basel 1934, S. 105