Wenn niemals Du in Sorge um den andern brennst

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Als Adams Nachfahr sind wir eines Stammes Glieder.
Der Mensch schlägt in der Schöpfung als Juwel sich nieder.
Falls Macht des Schicksals ein Organ zum Leiden führt,
sind alle andern von dem Leid nicht unberührt.
Wenn niemals Du in Sorge um den andern brennst,
verdienst Du nicht, dass Du Dich einen Menschen nennst.

Das Gedicht von Saadi (1190-1283) hängt im Eingang bei den Vereinten Nationen in New York

Nur das Einfache hat Bestand

Kruzifix aus dem Mittelrhein-Gebiet um 1200 / Foto: (c) wak

Erstmals denke ich: Ich – nicht nur: man – ich könnte an ein Kreuz glauben. Es steht nicht für die Inkarnation in nur einem Menschen, es steht für die Inkarnation als ein Prinzip.

Gewöhnlich schlagen Bildhauer etwas weg, nehme ich an, so daß Späne entstehen oder Splitter. Oder sie fügen, um Formen zu schaffen, etwas hinzu, Ton zum Beispiel. Speziell ein Kreuz bedarf gewöhnlich zweier Hölzer, eines längs, eines quer, und wurde deshalb für die islamischen Mystiker zum Symbol gerade nicht für ein Göttliches, sondern für die Welt: Die vier Arme erinnerten sie daran, daß die Welt aus den vier Elementen zusammengesetzt und daher, wie die antike Wissenschaft lehrt, vergänglich ist – denn nichts Zusammengesetztes habe Bestand, nur das Einfache.

Navid Kermani in „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“, München 2015

Rainer Maria Rilke: Aus einem April

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Wieder duftet der Wald.
Es heben die schwebenden Lerchen
mit sich den Himmel empor, der unseren Schultern schwer war;
zwar sah man noch durch die Äste den Tag, wie er leer war,-
aber nach langen, regnenden Nachmittagen
kommen die goldübersonnten
neueren Stunden,
vor denen flüchtend an fernen Häuserfronten
alle die wunden
Fenster furchtsam mit Flügeln schlagen.

Dann wird es still. Sogar der Regen geht leiser
über der Steine ruhig dunkelnden Glanz.
Alle Geräusche ducken sich ganz
in die glänzenden Knospen der Reiser.

Rainer Maria Rilke, 6.4.1900, Berlin-Schmargendorf

Unsere Menschlichkeit in einer höheren Ordnung wiederfinden

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Das, was wir an jenen Dichtern als zeitlos empfinden, ihr Mitteninnestehen im Leben, ist das Gefühl, dass uns in ihrer Dichtung, in der wie in der Herzkammer ein volles Leben schlägt, das Gefäß dargebracht ist, darin wir unsere aus Beseligungen und Kümmernissen, aus Süchten und Wunschlosigkeiten seltsam zusammengefügte Menschlichkeit in einer höheren Ordnung wiederfinden, so daß wir nur daraus zu schöpfen brauchen, um uns des rechten Weges im Dasein, also in der Zeitlichkeit, bewußt zu werden.

„Der Dichter und seine Zeit“ von Hermann Stehr im Jahr 1929. Erschienen in: Vom Geheimnis des Jenseits im Diesseits, Brentano Verlag, Stuttgart, 1960

Der vollständige Text ist hier nachzulesen:

MAGISCHE BLÄTTER
CI. JAHRGANG HERBST 2020
3. Quartalsausgabe August, September, Oktober, gebunden
ISBN.Nr. 978 -3-948594-03-9

HEFT 9 |  Oktober 2020

https://verlagmagischeblaetter.eu/monatsschrift/magische-blaetter

Bestellt werden können die Magischen Blätter hier: kontakt@verlagmagischeblaetter.eu

 

Niemand ist eine Insel

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Kein Mensch ist eine Insel,
vollständig für sich allein;
jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents,
ein Teil der Heimat.

eines jeden Menschen Tod zehrt mich auf,
verstrickt wie ich bin in die Menschheit.
Und deshalb, nie noch gesandt zu wissen,
wem die Glocke schlägt;
sie schlägt für Dich.

John Donne (1572 – 1631) Meditation XVII

https://www.ccel.org/ccel/donne/devotions.iv.iii.xvii.i.html

Der Text des Gedichtes wurde heute in Barcelona bei der Trauerfeier zum Gedenken an die Terroropfer vom 17. August 2017 von Angehörigen der Getöteten und Verletzten gesprochen.

Ich sah empor, und sah in allen Räumen Eines

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Ich sah empor, und sah in allen Räumen Eines;
Hinab ins Meer, und sah in allen Wellenschäumen Eines.

Ich sah in’s Herz, es war ein Meer, ein Raum der Welten,
Voll tausend Träum‘; ich sah in allen Träumen Eines.

Du bist das Erste, Letzte, Äußre, Innre, Ganze;
Es strahlt dein Licht in allen Farbensäumen Eines.

Du schaust von Ostens Grenze bis zur Grenz‘ im Westen,
Dir blüht das Laub an allen grünen Bäumen Eines.

Vier widerspenst’ge Thiere ziehn den Weltenwagen;
Du zügelst sie, sie sind an deinen Zäumen Eines.

Luft, Feuer, Erd‘ und Wasser sind in Eins geschmolzen
In deiner Furcht, daß dir nicht wagt zu bäumen Eines.

Der Herzen alles Lebens zwischen Erd‘ und Himmel,
Anbetung dir zu schlagen soll nicht säumen Eines!

Mevlana Dschelaleddin Rumi (1207-1273) / Übersetzung von Friedrich Rückert 1819)