Ein Hauch der Sache selbst

M y s t i k

Wenn es denn etwas gibt, was sich mit Mystik nicht verträgt, ist es die Geschichte der Mystik – und doch, wer will ausschließen, daß im Reden über etwas, das bloßes Darüber-Reden eigentlich verbietet, ein Hauch der Sache selbst vergegenwärtigt?

Peter Sloterdijk (* 1947) in: Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre. Berlin 2022, S. 231

In jeder Sache etwas „Bedenkliches“ erkennen

Photo by Brett Sayles on Pexels.com

Es gibt heute besonders viel Menschen, die ihre geistige Überlegenheit nicht besser beweisen zu können glauben, als dadurch, daß sie allen Scharfsinn aufbieten, um nur ja in jeder Sache irgendetwas „Bedenkliches“ zu entdecken: Menschen, die aus innerstem Bedürfnis heraus jeden harmonischen Zusammenhang durch ihre Unkenrufe stören.

Was auch immer geschehen mag, ist ihnen Ansatz, U n g l ü c k zu prophezeien; und ist wirklich ein Unglück hereingebrochen, dann können sie sich nicht genug tun, um ihren Nebenmenschen auch „recht klar“ zu machen, wie entsetzlich das Unheil sei, das sie betroffen hat. Richtig wütend aber werden solche Unglücksmenschen, wenn sie einem begegnen, der gar im Unglück noch der Hoffnung das Wort spricht, einem, der Gutes aus Bösem keimen sieht, wie die Lotusblüte aus dem Schlamme uralter Teiche; und wenn sie dem Sprecher dann ihre volle Verachtung entgegenschleudern, lautet ihr letztes Wort unfehlbar dahin aus: er sei ein „Optimist“ und nicht „ernst“ zu nehmen. …

„Optimismus“ von Joseph Schneiderfranken

Der ganze Beitrag von Joseph Schneiderfranken kann hier gelesen werden:

XII. MAGISCHE BLÄTTER BUCH | WINTER
CIII. Jahrgang Winter 2022 / 2023 | ORNAMENTE & MANTRA (Dezember | Heft 35)

EINZELBUCH, 364 Seiten, 20,00 € (zuzüglich Versandkosten)
ISBN-Nr. 978-3-948-5941-5 2

Herausgeber: Verlag Magische Blätter – Ronnenberg | Schriftleitung: Organisation zur Umwandlung des Kinos

Bestellungen hier: kontakt@verlagmagischeblaetter.eu subject: BESTELLEN MAGISCHE BLÄTTER BUCH XII

Lindernde Salbe für innere Risse

Skulptur von Wilhelm Lehmbruck / Foto: (c) wak

Wenn wir mit den brüchigen Instrumenten der Analyse in uns stochern und bohren, können wir uns schwersten Schaden zufügen. Einzig die Stimme innigen Gebets kann diesen ernsthaften inneren Rissen lindernde Salbe auftragen und ihnen die Gifte des Schmerzes entziehen. In Erfahrung zu bringen, was zum Zeitpunkt einer solchen Verletzung genau geschah, kann eine große Hilfe bedeuten; kennen wir ihre Ursachen, wird uns auch die innere Struktur der Wunde klarer. Echte Heilung aber ist eine ganz andere Sache. Wie alle großen Ereignisse der Seele, erreicht sie uns aus einer Richtung, die wir weder voraussehen noch ahnen können.

John O’Donohue ( 1954 – 2008)

Mehr spirituelle Impulse täglich hier: https://mystikaktuell.wordpress.com/

Für und wider streiten

Foto: (c) wak

Protagoras sagt, man könne über jede Sache mit gleich starken Gründen für und wider streiten, ja sogar darüber, ob sich wirklich über jede Sache für und wider streiten lasse.

Seneca (4 v.u.Z. – 65 u.Z.) in Epistulae morales ad Lucilium, 88,43

In: Seneca-Album. Weltfrohes und Weltfreies aus Senecas philosophischen Schriften. Von B.A. Betzinger. Freiburg/Br. 1899

Unendlichkeit des Weltalls

Foto: (c) wak

Erstlich gibt es für uns nach allen beliebigen Seiten
Weder nach rechts noch nach links, noch nach oben hin oder nach unten
Irgendein Ende. So hab‘ ich’s gelehrt, wie die Sache auch selber
Für sich spricht; so wird die Natur des Unendlichen deutlich.
Also muß wohl auch dies ganz unwahrscheinlich erscheinen,
Daß, da leer sich der Raum in das Unermeßliche dehnet,
Und unzählige Keime in endloser Tiefe des Weltraums
Mannigfach schwirren umher, von der ew’gen Bewegung ergriffen,
Dieser einzige Himmel entstünd‘ und ein einziger Erdkreis,
Während so viele Atome des Urstoffs außerhalb feiern!
Überdies ist die Schöpfung der Welt ein natürlicher Vorgang,
Da sich die Keime der Welt von selbst und durch Zufall begegnen.
Vielfach trieben sie völlig vergeblich und fruchtlos zusammen,
Bis sich dann endlich die plötzlich geeinigten Teilchen verschmolzen
Und dann jedesmal wurden zum Anfang großer Gebilde,
Wie von der Erde, vom Meere, vom Himmel und lebenden Wesen.
So mußt immer aufs neue du dies mir bestätigen, daß sich
Anderswo andre Verbindung des Urstoffs bildet wie unsre
Welt, die der Äther so fest mit brünstigen Armen umklammert.

Lukrez (55 v.u.Z.) in: Über die Natur der Dinge

https://www.textlog.de/lukrez-natur-weltalls.html

Worthandel

Man kann sich die Wirkung der Propheten so erklären, daß es begeisterte Leute waren, die ihren zurückgebliebenen Zeitgenossen einen neuen Begriff durch die Gewalt ihrer Redekunst suggerierten. Ihnen entsprechen ziemlich genau unsere Dichter, sofern sie sich den konservativen Mächten, gegenüberstellen und in holdem Wahnsinn eine gesteigerte Redekunst üben. Wie aber neben den großen und kleinen Propheten die ganz alltäglichen Pfaffen einhergehen, die ihr Brot verdienen, indem sie um Gedanken, die vor einigen tausend Jahren neu waren, ein verspätetes Wortgeplätscher vollführen, so stehen zu den Dichtern die meisten Journalisten, soweit sie sich nicht auf den ehrenhaften Nachrichtendienst beschränken. Nachrichten sind eine beliebte Ware, und der Handel mit ihnen nicht viel besser und nicht schlimmer als ein anderer Handel. Das journalistische Geplauder um diese Nachrichten herum jedoch ist oft nichts als eine Fälschung der Ware. Die Journalisten haben die alten Rhetoren im Worthandel abgelöst. Namentlich, wenn der Dichter aus Not zum Journalisten wird, fälscht er am gröbsten. Was er nicht niederschreiben würde um der Sache willen, was er sich schämen würde, auch nur auszusprechen, wenn er mit ebenbürtigen oder gleichgesinnten Gesellen hinter dem Bierglas sitzt, das schämt er sich nicht niederzuschreiben für den Pöbel, der sein tägliches, lauwarmes Wortbad zu nehmen liebt. Unsere Zeitungsliteratur wird so zu ihrem größten Teile gedrucktes Geschwätz, und da die meisten Menschen, Pfaffen und Bezirksredner etwa ausgenommen, beim wirklichen Schwätzen wenigstens interesselos sind, so kann man sagen, daß das gedruckte Geschwätz der geistreichen Leute noch unter dem gesprochenen Geschwätz der dummen Leute steht.

Fritz Mauthner (1849 -1923) in: Wesen der Sprache. Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band (1906)
http://www.textlog.de/18973.html

Zur Kunstausstellung eingeladen…

Mir fiel vor längerer Zeit die Einladung zur Eröffnung einer Kunstausstellung in die Hand. Einladungen dieser Art sind so austauschbar wie nur irgendwas. Das Raster sieht in den Schwerpunkten vor: Name des Künstlers, Name des Kunsthistorikers. Hat man Glück, gibt es noch eine musikalische Begleitung der Veranstaltung.

Geht man dann dort hin, erlebt man nicht nur das, was der Künstler präsentiert. Kunsthistoriker interpretieren, erläutern, beschreiben, erklären etc., was der geneigte Kunstfreund auf den Bildern zu sehen hat.
Gern sehe ich Kunst. Und ich will dabei meine eigenen Entdeckungen machen. Mich an-sprechen lassen von dem, was in der Plastik, dem Bild, der Graphik etc. zum Aus-Druck kommt. Ob dieser oder jener Künstler in einer historischen Linie von bis zu finden ist, ob er an diesen oder jenen erinnert, ist für mich in diesem Zusammenhang unerheblich. Ein Bild zu erklären hat die gleiche Qualität wie einen Witz zu erklären. Man versteht es oder eben nicht.

Die Arbeit von Kunsthistorikern ist wichtig, keine Frage. Aber der Ort für ihre Arbeit ist nicht die Eröffnung einer Kunstausstellung.

Jetzt habe ich wieder eine Einladung zur Kunstausstellung gesehen.

Es spricht kein Kunsthistoriker, sondern die Künstlerin selber „in eigener Sache“ zu den Prozessen, in denen die Bilder entstanden sind. Das nenne ich mal den Schritt in die richtige Richtung.

Gedrucktes Geschwätz

Man kann sich die Wirkung der Propheten so erklären, daß es begeisterte Leute waren, die ihren zurückgebliebenen Zeitgenossen einen neuen Begriff durch die Gewalt ihrer Redekunst suggerierten. Ihnen entsprechen ziemlich genau unsere Dichter, sofern sie sich den konservativen Mächten, gegenüberstellen und in holdem Wahnsinn eine gesteigerte Redekunst üben. Wie aber neben den großen und kleinen Propheten die ganz alltäglichen Pfaffen einhergehen, die ihr Brot verdienen, indem sie um Gedanken, die vor einigen tausend Jahren neu waren, ein verspätetes Wortgeplätscher vollführen, so stehen zu den Dichtern die meisten Journalisten, soweit sie sich nicht auf den ehrenhaften Nachrichtendienst beschränken. Nachrichten sind eine beliebte Ware, und der Handel mit ihnen nicht viel besser und nicht schlimmer als ein anderer Handel. Das journalistische Geplauder um diese Nachrichten herum jedoch ist oft nichts als eine Fälschung der Ware. Die Journalisten haben die alten Rhetoren im Worthandel abgelöst. Namentlich, wenn der Dichter aus Not zum Journalisten wird, fälscht er am gröbsten. Was er nicht niederschreiben würde um der Sache willen, was er sich schämen würde, auch nur auszusprechen, wenn er mit ebenbürtigen oder gleichgesinnten Gesellen hinter dem Bierglas sitzt, das schämt er sich nicht niederzuschreiben für den Pöbel, der sein tägliches, lauwarmes Wortbad zu nehmen liebt. Unsere Zeitungsliteratur wird so zu ihrem größten Teile gedrucktes Geschwätz, und da die meisten Menschen, Pfaffen und Bezirksredner etwa ausgenommen, beim wirklichen Schwätzen wenigstens interesselos sind, so kann man sagen, daß das gedruckte Geschwätz der geistreichen Leute noch unter dem gesprochenen Geschwätz der dummen Leute steht.

Fritz Mauthner in: Wesen der Sprache. Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band (1906)

http://www.textlog.de/18973.html