Atmen, das unsichtbare Gedicht!

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Atmen, das unsichtbare Gedicht!
Immerfort um das eigne
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne.

Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, –
Raumgewinn.

Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte.

Rainer Maria Rilke (1875 -1926) in: „Sonette an Orpheus, Zweiter Teil“, 1922

Im Gehen entsteht der Weg

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Wanderer, deine Spuren sind
der Weg, und sonst nichts;
Wanderer, es gibt keinen Weg,
der Weg entsteht im Gehen.
Im Gehen entsteht der Weg,
und wenn man den Blick zurückwirft,
sieht man den Pfad, den man
nie wieder betreten wird.
Wanderer, es gibt keinen Weg,
nur Kielwasser im Meer.

Antonio Machado ( 1875 – 1939 ) in: „Campos de Castilla“, 1917 ~ Übersetzung: Fritz Vogelgsang

Die Seele

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Die Seele kann ein Meer sein,
Aber auch — ein Tümpel,
Verjaucht, und angefüllt
Mit irdischem Gerümpel…

Ist sie ein Meer,
So hält sie, gleich den Meeren,
Sich selber immerfort bewegt und rein.
Ist sie ein See,
So wird in gleicher Weise
Sie selbst sich Klärung
Durch lebendige Bewegung sein.
Und auch als Teich
Kann sie sich selber klären,
Mag das nach Stürmen
Auch recht lange währen.

Ist sie jedoch ein Tümpel,
Gibt sie allem Abfall Raum,
Verwest als trüber Pfuhl
Und — fühlt es kaum.

Bô Yin Râ, Leben im Licht, Basel 1934, S. 105

 

Was ist Asien und Europa?

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Was ist Asien und Europa? ein paar kleine Stückchen der Welt. Was ist das ganze Meer? ein Tropfen der Welt. Und der Athos? eine Weltscholle. Alles ist klein, veränderlich, verschwindend. Aber alles kommt und geht hervor oder folgt aus jenem allwaltenden Geiste.

Marc Aurel (121 – 180) in: Selbstbetrachtungen, XXXVI.

Atmen, das unsichtbare Gedicht

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Atmen, das unsichtbare Gedicht!
Immerfort um das eigne
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne.

Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, –
Raumgewinn.

Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte.

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) in: „Die Sonette für Orpheus. Zweiter Teil“

Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister…

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Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.

Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen hängt der Hammer schwer,
bis eine Stunde uns die Stirnen küßte,
die strahlend und als ob sie alles wüßte
von dir kommt, wie der Wind vom Meer.

Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß.
Erst wenn es dunkelt, lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern.

Gott, du bist groß.

Rainer Maria Rilke, 26.9.1899, Berlin-Schmargendorf