Christian Morgenstern: Der Engel

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Wo bist du hin? Noch eben warst du da –
Was wandtest du dich wieder abwärts, wehe,
nach jenem Leben, das ich nicht verstehe,
und warst mir jüngst doch noch so innig nah.

Ich soll hinab mit dir in deine Welt,
aus der die Schauer der Verwesung hauchen,
ins Reich des Todes soll ich mit dir tauchen,
das wie ein Leichnam fort und fort zerfällt?

Wohl gibt es meinesgleichen, eingeweiht
in eure fürchterliche Daseinsstufen…
Doch ich bin’s nicht. Nur wie verworrnes Rufen
erschreckt das Wort mich Eurer Zeitlichkeit.

Laß mich mein Haupt verhüllen, bis du neu
mir wiederkehrst, so rein, wie ich dich liebe,
von nichts erfüllt als süßem Geistestriebe
und deinem Urbild wieder strahlend treu.

Christian Morgenstern (1871 – 1914)

Lebendgem Worte bin ich gut

nietzschelebendemwortÜbertragung des Gedichtes von Nietzsche durch Xu Bing (*1955) im Museum für Ostasiatische Kunst, Köln

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Lebendgem Worte bin ich gut:
Das springt heran so wohlgemut,
das grüßt mit artigem Geschick,
hat Blut in sich, kann herzhaft schnauben,
kriecht dann zum Ohre selbst dem Tauben
und ringelt sich und flattert jetzt
und was es tut, das Wort ergötzt.

Doch bleibt das Wort ein zartes Wesen,
bald krank und aber bald genesen.
Willst ihm sein kleines Leben lassen,
mußt du es leicht und zierlich fassen,
nicht plump betasten und bedrücken,
es stirbt oft schon an bösen Blicken –
und liegt dann da, so ungestalt,
so seelenlos, so arm und kalt,
sein kleiner Leichnam arg verwandelt,
von Tod und Sterben mißgehandelt.

Ein totes Wort – ein häßlich Ding,
ein klapperdürres Kling-Kling-Kling.
Pfui allen häßlichen Gewerben,
an denen Wort und Wörter sterben.

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 – 1900)