Seiner Jahre Zahl vollenden

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Unser Leben ist endlich; das Wissen ist unendlich. Mit dem Endlichen etwas Unendlichem nachzugehen, ist gefährlich. Darum bringt man sich nur in Gefahr, wenn man sein Selbst einsetzt, um die Erkenntnis zu erreichen. Dem Gutestun folgt der Ruhm nicht auf dem Fuße nach; dem Übeltun folgt die Strafe nicht auf dem Fuße nach.

Wer es aber versteht, die Verfolgung der Hauptlebensader zu seiner Grundrichtung zu machen, der ist imstande, seinen Leib zu schützen, sein Leben völlig zu machen, den Nächsten Gutes zu tun und seiner Jahre Zahl zu vollenden.

Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Kreuzlingen / München, 2002, S. 53-54

Verkündiger der Morgenröte

An Tieck

Die Zeit ist da, und nicht verborgen
Soll das Mysterium mehr sein.
In diesem Buche bricht der Morgen
Gewaltig in die Zeit hinein.

Verkündiger der Morgenröte,
Des Friedens Bote sollst du sein.
Sanft wie die Luft in Harf und Flöte
Hauch ich dir meinen Atem ein.

Gott sei mit dir, geh hin und wasche
Die Augen dir mit Morgentau.
Sei treu dem Buch und meiner Asche,
Und bade dich im ewigen Blau.

Du wirst das letzte Reich verkünden,
Was tausend Jahre soll bestehn;
Wirst überschwenglich Wesen finden,
Und Jakob Böhmen wiedersehn.

Friedrich von Hardenberg / Novalis (1772 – 1801)

In seinem „An Tieck“ gerichteten Gedicht aus dem Jahre 1800 zeigt Novalis, welche Bedeutung die Begegnung mit dem Werk Jacob Böhmes (1575 – 1624) für ihn hatte. Die letzten Verse verherrlichen gleichsam Böhmes „Morgenröte im Aufgang“.

Unter anderem dieser Text wurde in einem Hörstück Die Sprache ist Delphi / Novalis träumt von Ronald Steckel eingearbeitet: https://mystikaktuell.wordpress.com/2022/03/24/17596/

Was kostet unser Fried?

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Was kostet unser Fried?
O, wie viel Zeit und Jahre!
Was kostet unser Fried?
O, wie viel graue Haare!
Was kostet unser Fried?
O, wie viel Ströme Blut!
Was kostet unser Fried?
O, wie viel Tonnen Gut!

Friedrich von Logau (1605 – 1655)

Als Geist über den Wassern

Taube

Keramik von Gretel Schulte-Hostedde                  Foto (c) wak

 

 

Als Geist Gottes
schwebt sie
seit tausenden Jahren
über den Wassern,
die Taube.

Nur selten aber
kehrt sie heute zurück
mit einem Ölblatt
im Schnabel,
wie noch bei Noah.

w.a.k.

 

Allen Leserinnen und Lesern gesegnete Pfingsttage!