Allumfassende Harmonie

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Nichts ist alleinstehend in dieser Welt. Vom Lichtpartikel führt ein Weg zur Relativität, von der Schwerkraft ein Weg zur Planckschen Konstante, vom Blatt, das der Wind vor sich hinwirbelt, zum Baum und zur Knospe, die ihn von neuem hervorbringen wird, kurz zur Dynamik des Lebens.
Alles Existierende spiegelt in seiner Weise den Rhythmus einer ewigen Bewegung wider, denn das kosmische Gesetz überbrückt den Abgrund, der scheinbar das unendlich Kleine vom unendlich Großen trennt. Es enthüllt das Wirken einer allumfassenden Harmonie, die sich dem Mystiker in seiner Meditation offenbart.

Frederic Lionel (1908 – 1999) in: Abendland. Hüter der Flamme. Remagen, o.J., S. 29

Einfach da

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Siehe, inmitten des Waldes,
während der Wind in den Ästen spielt,
entfaltet sich das Blatt aus seiner Knospe,
wächst heran, grün und groß,
und ist einfach da.

Alfred Tennyson (1809 – 1892)

Es kribbelt und wibbelt weiter

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Die Flut steigt bis an den Arrarat,
Und es hilft keine Rettungsleiter,
Da bringt die Taube Zweig und Blatt –
Und es kribbelt und wibbelt weiter.

Es sicheln und mähen von Ost nach West
Die apokalyptischen Reiter,
Aber ob Hunger, ob Krieg, ob Pest,
Es kribbelt und wibbelt weiter.

Ein Gott wird gekreuzigt auf Golgatha,
Es brennen Millionen Scheiter,
Märtyrer hier und Hexen da,
Doch es kribbelt und wibbelt weiter.

So banne dein Ich in dich zurück
Und ergib dich und sei heiter,
Was liegt an dir und deinem Glück?
Es kribbelt und wibbelt weiter.

Theodor Fontane (1819 – 1898)

Ginkgo biloba

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Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.

Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als eines kennt?

Solche Fragen zu erwidern
Fand ich wohl den rechten Sinn:
Fühlst Du nicht an meinen Liedern,
Daß ich eins und doppelt bin?

Johann Wolfgang von Goethe / 1815 (1749 – 1832)

Atmen, das unsichtbare Gedicht

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Atmen, das unsichtbare Gedicht!
Immerfort um das eigne
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne.

Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, –
Raumgewinn.

Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte.

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) in: „Die Sonette für Orpheus. Zweiter Teil“

Ich lieb den Herbst…

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Ich lieb den Herbst, im Blicke Trauer.
In stillen Nebeltagen geh
Ich oft durch Fichtenwald und seh
Vor einem Himmel, bleich wie Schnee,
Durch Wipfel wehen dunkle Schauer.

Ich lieb, ein herbes Blatt zu Brei
Zu kauen, lächeln zu zerstören
Den Traum, dem wir so gern gehören.
Fern des Spechtes scharfer Schrei!

Das Gras schon welk…schon starr vor Kühle,
Von hellen Schleiern überhaucht.
In mir das Weben der Gefühle,
Das Herz in Bitternis getaucht…

Soll ich Vergangenes nicht beschwören?
Soll, was da war, nie wieder sein?
Die Fichten nicken dunkel, hören
Gelassen zu und flüstern Nein.

Und da: ein ungeheures Lärmen,
Ein Ineinanderwehn von Zweigen,
Ein Rauschen wie von Vogelschwärmen,
Die, einem Ruf gehorchend, steigen.

Iwan S.Turgenjev (1818-1883)