Nur das Einfache hat Bestand

Kruzifix aus dem Mittelrhein-Gebiet um 1200 / Foto: (c) wak

Erstmals denke ich: Ich – nicht nur: man – ich könnte an ein Kreuz glauben. Es steht nicht für die Inkarnation in nur einem Menschen, es steht für die Inkarnation als ein Prinzip.

Gewöhnlich schlagen Bildhauer etwas weg, nehme ich an, so daß Späne entstehen oder Splitter. Oder sie fügen, um Formen zu schaffen, etwas hinzu, Ton zum Beispiel. Speziell ein Kreuz bedarf gewöhnlich zweier Hölzer, eines längs, eines quer, und wurde deshalb für die islamischen Mystiker zum Symbol gerade nicht für ein Göttliches, sondern für die Welt: Die vier Arme erinnerten sie daran, daß die Welt aus den vier Elementen zusammengesetzt und daher, wie die antike Wissenschaft lehrt, vergänglich ist – denn nichts Zusammengesetztes habe Bestand, nur das Einfache.

Navid Kermani in „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“, München 2015

Ohne Bestand sind die wir Elemente benennen

Fotos. (c) wak

Ohne Bestand sind auch, die wir Elemente benennen.
Was für Wechsel sie trifft, – merkt auf – ich will es verkünden.
Vier Grundstoffe bewahrt, die alles erzeugen, des Weltalls
Ewiger Bau. Zwei haben Gewicht: mit der Erde die Welle,
Die gehn nieder zum Grund, von der eigenen Schwere gezogen.
Ebensoviel sind ohne Gewicht und streben zur Höhe,
Frei vom Drucke: die Luft und, reiner als jene, das Feuer.
Daraus, wenn sie getrennt auch sind, nimmt seine Entstehung
Alles, in sie fällt alles zurück. Das zersetzete Erdreich
Löst sich in flüssiges Naß, und das flüchtig gewordene Wasser
Schwindet in Dunst und Luft, und wieder, enthoben der Schwere,
Schwingt sich die dünneste Luft in die Höhe zum feurigen Aether.
Dann geht wieder der Weg rückwärts in der nämlichen Folge.
Denn in die trägere Luft geht über verdichtetes Feuer;
Wasser entsteht aus der Luft; zum Erdreich ballt sich die Welle.

Publius Ovidius Naso / Ovid (+ um 17 u.Z.) in: Metamorphosen. Übertragung von Johann Heinrich Voß (1798)